Kuriose Waffen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit – Die Wurfkugel

von Patrick Tarner

Die heute behandelte kuriose Waffe des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit ist nahezu gänzlich unbekannt und in den Quellen nur sehr schwer greifbar: die Wurfkugel. Gemeint ist hier nicht die Kugel des Kugelstoßens oder anderer Sportarten. Auch geht es nicht um Schleudersteine oder die Geschosse eines Pulvergeschützes. Vielmehr handelt es sich um eine Waffe zur Jagd und zur Selbstverteidigung. Diese erscheint hauptsächlich in der Literatur des 19. und frühen 20. Jhd., in zeitgenössischen Titeln ist sie nicht präsent. 

Als Wurfkugeln bezeichnete Waffen existieren noch heute. Besonders bekannt ist die südamerikanische Bola, eine Steinkugel an einer langen Schnur. Hierbei weist die eigentliche Kugel eine etwa faustgroße Eiform auf und verfügt meist über Nebenkugeln. Sie wird über dem Kopf geschwungen und geworfen (Klemm 1858, 283). Weiterhin existiert die sogenannte verlorene Bola (Bola Perdida), welche nur über eine Kugel verfügt und dem Schleudern dient. Im Nahbereich nutze man sie jedoch auch als Schlagwaffe, die schon vor der spanischen Eroberung Südamerikas bekannt war (Klemm 1843, 18).

Bolastein mit Seilkerbe, Peru – Museum of World Culture, Sweden – CC BY 4.0, keine Veränderungen, https://www.europeana.eu/item/91608/SMVK_VKM_objekt_73862.

Laut Max Jähns erscheinen metallene Wurfkugeln auf antiken Vasenbildern als Reiterwaffe, wo sie an einer langen Schnur geschwungen, aber nicht aus der Hand gelassen werden (Jähns 1880, 16). Allerdings bleibt Jähns Quellenangaben oder konkrete Abbildungen hierzu schuldig. Demmin berichtet von bolaartigen Waffen bei den antiken Ägyptern, Persern und Sarmaten, bei denen es sich aber offenbar eher um mit dem Lasso vergleichbare Fangschnüre handelt (Demmin 1893, 876). Die klassischen, südamerikanischen Bolas dienen vor allem dem Fang von Tieren. Hierbei sollte sich die Schnur mit Schwung um das Ziel wickeln und dieses fixieren. Die angebrachten Kugeln erfüllten hierbei die Funktion von Gewichten. Demgegenüber war bei der Wurfkugel die Kugel selbst die eigentliche Waffe.

Aus archäologischer Perspektive sind steinerne Wurfkugeln als Jagdhilfsmittel schon an verschiedenen Fundplätzen der jüngeren Altsteinzeit nachgewiesen (Lindner 1937, 50). Nahe der südafrikanischen Makapanshöhle (Makapansgat) fanden Wissenschaftler 55 prähistorische Wurfsteine in Tennisballgröße, die über 70.000 Jahre alt sind (O´Hare 2016). Auch für Anhäufungen eiförmiger Feuersteinknollen an den prähistorischen Muschelhaufen (Køkkenmødding), die sich z.B. in Vålse fanden, ist in der Vergangenheit eine Funktion als Wurfwaffe diskutiert worden (Müller 1897, 36–37). Es könnte sich aber auch schlichtweg um Rohmaterial zur Herstellung von Klingen handeln.

Jähns berichtet von Funden eiförmiger Kiesel mit einer Hohlkehle zur Aufnahme eines Seiles, welche in den bronzezeitlichen Pfahldörfern der italienischen Poebene gefunden worden sein sollen (Jähns 1899, 114).  

In Schottland fanden sich zudem in der Vergangenheit zahlreiche faustgroße, teils gravierte und durchlochte Steinkugeln. Diese müssen teils aus dem Neolithikum stammen, da sie auch aus entsprechend datierbaren Gräbern auf den Orkneyinseln zum Vorschein kamen. Einige Kugeln dieser Art befinden sich im National Museum in Edinburgh, andere im Hunt Museum im irischen Limerick. Die Funktion ist noch immer ungeklärt, Interpretationsversuche reichen von Standeszeichen über Keulenköpfe bis hin zu Bolas und Wurfkugeln (Cursiter 1882, 295–296; Gershon 2021). Zum Aufsetzen auf Holzschäfte erscheinen die Löcher aber teils zu klein, sodass sie eher zur Aufnahme einer Schnur gedient haben dürften (3D-Modell entsprechender Funde).

Archäologischer Fund eines Wurfsteins, Herkunft unbekannt, The Hunt Museum, Irland, CC0, https://www.europeana.eu/item/325/HCA211.

Im Mittelalter begegnet uns die Wurfkugel in wenigen Schriftquellen. Der „Rinderraub von Tooley“, die zentrale Sage des mittelalterlichen irischen Ulster-Zyklus (aufgezeichnet im 12. bis 15. Jhd.) berichtet von dem sechsjährigen Cú Chulainn, der vom monströsen Wachhund des Schmiedes Culann verfolgt wird und diesen tötet, indem er ihm eine Wurfkugel in den Rachen wirft. (Burkhart 2015, 50). Die Kugel wird mitunter jedoch auch als Projektil einer Steinschleuder angesprochen.

Eindeutiger erscheint hier eine Bekanntmachung des englischen Königs Edward III. von 1365 an die Sheriffs von London: „dass jeder körperlich taugliche Mann besagter Stadt an Festtagen, wenn er Muße hat, sich im Gebrauch von Pfeil und Bogen, Wurfkugeln und Bolzen üben soll… Es ist ihnen bei Strafe der Einkerkerung verboten, sich am Steinschleudern, Holzscheit- und Wurfringspiel, Handball, Fußball … oder anderen unnützen, wertlosen Spielen zu beteiligen.“ (Gießauf 2014, Anm. 39). Zwar mögen die Wurfkugeln prinzipiell auch auf das Kugelstoßen hindeuten, doch werden hier die militärisch verwendbaren Gattungen explizit gefördert. Auch können die Wurfkugeln keine Schleuderkugeln meinen, da das Steinschleudern explizit verboten wird.

In der frühen Neuzeit mehren sich die Nennungen der Wurfkugeln, jedoch stets negativ behaftet. So vermeldet die vor 1541 entstandene Stadtordnung von Gotha: „[16] Mortliche gewher, als schlachtmesser, eiysern, pleiern ader ehrn kugeln und alle stechende messer ader geweher, wurfkreuz, barten und der gleichen sollen alzeit in der stat zu tragen vorbotten sein […]“ (Strenge/Devrient 1909, 397). An dieser Stelle werden die bleiernen, eisernen und ehernen (bronzenen?) Kugeln selbstständig als Waffen und ohne jegliche Aufführung einer Handfeuerwaffe aufgezählt (geweher meint hier nämlich die „Wehr“ als Klingenwaffe und kein Gewehr), sodass es sich nicht um deren Munition handeln kann.  

1568 untersagte die Stadt Iglau (heute Jihlava, Tschechien) allen Einwohnern das offene oder verborgene Tragen von Waffen, „[…] es sey ein Schwert, Tiseken, Dolch, Flegl, Hämmer, Büchse, bleierne oder eiserne Kugel, Wurfkreuz, Hacken […]“ (Elvert 1850, 243). Hier ist nicht ganz eindeutig, ob es sich bei den Kugeln nicht lediglich um die Projektile der Büchse handelt.

Aus den Schriften Melanchthons (1497–1560) geht hervor, dass an der Universität Wittenberg in jedem Semester ein kurfürstliches Mandat vorgetragen wurde, welches den Studenten das Waffentragen untersagte: „keine Wehre, es sei Schwert, Messer, Tysäcken, Hessen, Dolchen, Bleykugel, Wurfkreuz, Barten, Flegel, Hämmer, Büchsen, oder wie sie genannt seynd, die sich zu Beleidigung oder Beschädigung des Leibes ziehen möchte.“ (Kehrbach 1889, 480. Vgl. Bauer 1926, 45). Auch war nach Melanchthons Auffassung die Verwendung von Bleikugeln (eiaculari globos plumbeos) verboten, wobei nicht ganz eindeutig festgelegt werden kann, ob hier Wurfkugeln oder Bleikugeln zum Büchsenschießen gemeint sind (Kehrbach 1889, 479). Die Kugeln sind in der Aufzählung allerdings deutlich von der ebenfalls genannten Büchse abgetrennt.

Die Verordnung „Vermerkt des Hohwürden Gotteshaus und Klosters allhier zu Möllck Gerechtigkeit, Privilegien, Freyheiten und löbl. Gewohnheit, So es hat in dem Markt daselbst“ vom Dezember 1558 gibt an: „Wer Haken, Spiß, Trischl, Armbrust, oder andere solche verbottene wehr zu Nachts auf der Gassen trug, wurfhaken, Bleykugl, oder Kolben zu dem Wein, der ist zu Wandl 72 Pfennig und dazu um die Waffen.“ (Kaltenbaeck 1845, 120). Neben Waffen wie Spieß und Armbrust werden hier auch Werkzeuge wie der Dreschflegel (Drischel) genannt. Die Bleikugeln erscheinen isoliert von jeglicher Fernwaffe und sind daher wohl als eigenständige Waffe zu betrachten.

Das Jagdgesetz Herzog Christophs von 1565 nennt Giftkugeln, welche das Wild „unsinnig und rasend“ machen (Fischbach 1888, 410). Bei diesen handelte es sich jedoch um Köder, die ausgelegt wurden (Wagner 1876, 468–469). In einer Auflistung von Waffen der Wilddiebe nennt die württembergische Wildererordnung von 1588 aber auch Wurfkreuz und Wurfkugeln. Diese kommen in der stark abgeänderten zweiten Wildererordnung von 1718 ebenfalls noch vor, dürften also weiterhin in Gebrauch gewesen sein (Wagner 1876, 469; Fischbach 1888, 411).

Japanische Wurfsteine in Scheibenform wurden im Umfeld der Belagerung von Burg Odawara (1590) ausgegraben. Möglicherweise handelt es sich bei diesen um die Vorläufer der heutigen Shuriken, der Wurfsterne (Jarus 2022).

Wurfkugeln aus Stein, die häufig ohne eine Schnur aus der Hand geworfen wurden, finden sich also bereits in der Vorgeschichte. Vermutlich dienten sie vor allem als einfache Jagdwaffen. Im Spätmittelalter und insbesondere der Frühen Neuzeit mehren sich die Quellen, doch kann es sich teils auch um Schleuder- oder Büchsenkugeln handeln. An anderer Stelle sind sie aber wiederum gänzlich separat aufgelistet oder sogar explizit als Wurfkugeln benannt. Über ihr Aussehen sind die Hinweise außerordentlich spärlich. Im Gegensatz zur Bola bestanden die Kugeln oftmals aus Blei und Eisen, vielleicht auch aus Buntmetall. Stein wird nicht erwähnt. Weiterhin legt die Bezeichnung Wurfkugel die Wurffunktion nahe und beschränkt die Größe auf maximal faustgroße Exemplare. Zum versteckten Mitführen, welchem die zahlreichen Verbote vorbeugen wollten, erscheint sogar ein noch kleineres Maß sinnvoller. Ob die Kugeln mittels einer Schnur geschwungen wurden, oder aber lediglich ein einfacher Wurf mit der Hand erfolgte, lässt sich nicht feststellen. Beides dürfte auf kurze Distanz eine hohe Effektivität entfalten. Das Schwingen an einer Schnur hätte den Vorteil, dass die Kugel sich wieder zurückholen, aber auch weiter werfen ließe. Jedoch scheint es sich bei der Wurfkugel um eine noch nicht eindeutig identifizierte Waffe zu handeln, welche abgegrenzt von der Steinschleuder betrachtet werden muss.

Literatur

Bauer 1926: Max Bauer, Sittengeschichte des deutschen Studententums (Dresden 1926).

Burkhart 2015: Stefan Burkhart, Der Hund im Krieg. 3000 Jahre im Einsatz (Norderstedt 2015).

Cursiter 1882: James Cursiter, Note of a carved stone ball recently found in Orknes. Proceedings of the Society of Antiquaries of Scotland 16, 1882, 295–296.

Demmin 1893: August Demmin, Die Kriegswaffen in ihren geschichtlichen Entwicklungen von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Enzyklopädie der Waffenkunde 1 (Leipzig 1893).

Elvert 1850: Christian d´Elvert, Geschichte und Beschreibung der (königl. Kreis-) und Bergstadt Iglau in Mähren (Brno 1850).

Fischbach 1888: Karl von Fischbach, Die Lehre von der Nothwehr im Vergleich mit den jetzigen Hand-Feuerwaffen. Allgemeine Forst- und Jagd-Zeitung, Dezember 1888.

Gershon 2021: Livia Gershon, Polished 5.500 -year-old stone balls found in neolithic scottish tomb. Smithsonian Magazine, 9. September 2021.

Gießauf 2014: Johannes Gießauf, Es darf schon einmal einer bluten. Wie Europa kickte, bevor es den Fußball erfand. In: J. Gießauf et al., Fußball, Macht und Diktatur. Streiflichter auf den Stand der historischen Forschung. Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung 22 (Innsbruck 2014), 47–67.

Graff 2020: David Graff et al. The Cambridge History of War 2. War and the Medieval World (Cambridge 2020).

Jähns 1880: Max Jähns, Geschichte des Kriegswesens von der Urzeit bis zur Renaissance. Technischer Teil (Leipzig 1880).

Jähns 1899: Max Jähns, Entwicklungsgeschichte der alten Trutzwaffen (Berlin 1899).

Kaltenbaeck 1845: Johann Kaltenbaeck, Die oesterreichischen Rechtsbücher des Mittelalters 1 (Wien 1845).

Kehrbach 1889: Karl Kehrbach, Monumenta Germaniae Paedagogica. Schulordnungen, Schulbücher und pädagogische Miscellaneen aus den Landen der deutschen Zunge 7. Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae (Berlin 1889).

Klemm 1843: Gustav Klemm, Allgemeine Cultur-Geschichte der Menschheit 2 (Leipzig 1843).

Klemm 1858: Gustav Klemm, Die Werkzeuge und Waffen. Ihre Entstehung und Ausbildung (Sondershausen 1858).

Lindner 1937: Kurt Lindner, Geschichte des deutschen Weidwerks 1. Die Jagd in der Vorzeit (Berlin, Leipzig 1937).

Müller 1897: Sophius Müller, Nordische Altertumskunde nach Funden und Denkmälern aus Dänemark und Schleswig 1 (Straßburg 1897).

O´Hare 2016: Ryan O´Hare, Stone age missiles. Daily Mail, 10. August 2016. https://www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-3732832/Stone-age-missiles-prehistoric-hunters-planned-ahead-Throwing-rocks-effective-weapons-early-humans.html

Jarus 2022: Owen Jarus, 430-year-old ninja weapons possibly identified. Live Science, 14. Februar 2022. https://www.livescience.com/ancient-ninja-weapons-discovered.

Strenge/Devrient 1909: Karl von Strenge/Ernst Devrient, Die Stadtrechte von Eisenach, Gotha und Waltershausen. Thüringische Geschichtsquellen N.F. 6 (Jena 1909).

Wagner 1876: Rudolf von Wagner, Das Jagdwesen in Württemberg unter den Herzogen. Ein Beitrag zur deutschen Kultur- & Rechts-Geschichte (Tübingen 1876).

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