Gladiatoren und Preisboxer: Der Beginn des modernen Boxens

von Heiko Große

Bei dem Begriff “Gladiatoren“ denken die meisten Leute vermutlich an das antike Rom und seine blutigen Zweikämpfe im Colosseum. Natürlich ist dieser Gedanke nachvollziehbar und nur wenige, insbesondere im deutschsprachigen Raum, haben Kenntnisse von einem historischen Kapitel in der Geschichte des Boxens, das sich Ende des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts ereignete. Die Rede ist von den “Stage-Gladiators“ oder “Sword-Players“ und ihren “Prizefights“.

Zwischen ca. 1670 und 1760 gab es auf den britischen Inseln Spektakel von blutigen Schaukämpfen für ein begeistertes Publikum, für Ruhm und Ehre und natürlich für eine ordentliche Kampfbörse. Diese Preiskämpfe kann man durchaus als den Beginn des modernen Boxens, wie wir es heute kennen, bezeichnen. Nicht nur in London und anderen Städten und Dörfern Englands, sondern auch in abgeschiedenen Regionen wie Schottland, Irland und gar auf den karibischen Inseln Jamaika und Barbados, fanden solche Preiskämpfe statt. Dies waren sehr ritualisierte, jedoch blutige Duelle, die schon viele Attribute unseres heutigen Profi-Kampfsports hatten: Professionelle Kämpfer, öffentliche Trainingsstätten, spektakuläre Veranstaltungen in dafür aufgebauten Arenen, begeisterte Zuschauermengen, Wettgeschäfte, Sponsoren und Preisgelder.

Wann genau diese Tradition der Preiskämpfe begann, ist unbekannt. Erste Berichte stammen aus dem späten 17. Jahrhundert, wie von dem französischen Reisenden Josevin de Rocheford, der 1672 in London über die Kampfarena Beargarden schrieb (grobe Übersetzung):

Tierkampf mit Dachsen. Zeichnung von Henry Thomas Alken, circa 1820.

„Wir gingen in den Bergiardin, wo alle möglichen Tierkämpfe stattfanden und manchmal auch zwischen Menschen, wie wir einmal sahen. Normalerweise, wenn ein Fechtmeister das Bedürfnis verspürte seinen Mut und seine großartigen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, wurden gegenseitige Herausforderungen ausgesprochen. Bevor sie kämpfen, paradierten sie durch die Stadt mit Trommeln und Posaunen, um die Öffentlichkeit darüber in Kenntnis zu setzen, dass eine Herausforderung zwischen zwei tapferen Meistern der Kunst der Verteidigung stattfand und wann diese Schlacht stattfinden würde.“

Vermutlich ist die Tradition dieser Zweikämpfe aber schon älter oder basierte zumindest auf einer solchen. Es gibt Hinweise darauf, dass schon früher im 17. Jahrhundert bei großen Festen Zweikämpfe mit Waffen und im Ringen ausgetragen wurden. Die Preiskämpfer um 1700 sahen sich jedenfalls in der Tradition der Company of Maisters, einer Fechtgilde, die im 16. Jahrhundert unter den Tudors gegründet wurde. Diese hatten ähnlich den Fechtgilden im deutschsprachigen Raum den Zweck, dass nur offiziell ausgebildete Fechter sich als Meister der Selbstverteidigung titulieren durften. Die Company hatte dazu ein System von Graduierungen, nicht unähnlich dem Dan-System der modernen Budo-Disziplinen. Zur Zertifizierung mussten die Studenten der Kampfkunst dann Preiskämpfe absolvieren in unterschiedlichen Waffengattungen. Diese waren durchaus öffentlich, ähnlich der deutschen Fechtschule, jedoch im Gegensatz zu ihren Nachfolgern der Bühnen-Gladiatoren, ging es um die Graduierung und das Zurschaustellen der Fähigkeiten, nicht um eine Kampfbörse.

Waffenkampf. Illustration von Grinda / Städler-Ley / Große (2014).

Dass die Preiskämpfer des 18. Jahrhunderts sich dennoch in dieser Tradition sahen, spiegelt sich auch in den Waffengattungen wider. Hauptwaffe war das Backsword, ein vornehmlich zum Hieb gedachtes Schwert mit einem stabilen Korb-Gehilz zum Schutz der Hand. Diese Waffe war in England schon seit Mitte des 16. Jahrhunderts sowohl beim Militär im Gebrauch als auch zivil und die Hauptwaffe der Company of Maisters. Das Backsword oder Broadsword war die bevorzugte Blankwaffe in England, Schottland und Irland, am bekanntesten natürlich in den Händen der schottischen Hochländer. Doch dieses Schwert war weder ausschließlich schottisch noch “Highland“, auch wenn der Name dies impliziert. In Wirklichkeit war es nahezu eine Volks-Waffe, denn wer kein echtes Schwert tragen konnte oder durfte, der wusste zumindest den Singlestick oder Cudgel zu gebrauchen: Ein Übungsgerät zum Fechten aus einem massiven Eschenholzstock mit einem Handschutz aus gehärtetem Leder oder Korbgeflecht. Damit wurde nicht nur das Fechten geübt, sondern auch gerne mal auf Volksfesten so lange gefochten, bis einer der Kontrahenten eine blutige Platzwunde am Kopf hatte.

Dazu nutzten die Prizefighter alle möglichen Beiwaffen, wie Parierdolch, Buckler oder auch Targe (Rundschild, den die Highlander gerne nutzten). Aber es gab alle möglichen Waffengänge, oftmals mehrere hintereinander zwischen zwei Kämpfern: Degen, Falchion (eine Art Entermesser), Doppel-Falchion (also zwei Kurzwaffen), manchmal sogar Zweihandschwert oder Hellebarde. Besonders beliebt war aber auch der Quarterstaff, ein Kampfstab aus Holz, der seit dem Mittelalter in England im Gebrauch war und neben dem Langbogen lange Zeit als die wohl “englischte aller Waffen“ galt. Im 18. Jahrhundert hatte er als Übungs- und Verteidigungswaffe zwar schon etwas ausgedient, aber viele Fechtmeister, wie Zachary Wylde, und auch die Stage-Gladiators gebrauchten ihn noch gerne.

Übung im Faustkampf. Illustration von Grinda / Städler-Ley / Große (2014).

Die Waffenkämpfe hatten nicht das Ziel tödlich zu enden, doch die blutigen Spektakel konnten aufgrund heftiger Verletzungen durchaus mit dem Tod eines Kämpfers enden. Manchmal unterlagen die Gefechte strengen Regeln, z.B. durften keine Stiche ausgeführt oder nur eine bestimmte Anzahl von Hiebkombinationen eingesetzt werden. Verletzungen durch Hiebe konnten gut behandelt werden, aber im heutigen Sportgeist waren diese natürlich viel zu heftig. Abgetrennte Ohren, halb durchtrennte Handgelenke, nahezu skalpierte Schädel. Wer solch einen Kampf mit scharfer Klinge mitmachte, der musste um seine Gesundheit, gar das eigene Leben fürchten. Viele der professionellen Kämpfer waren recht übel zugerichtet, bedenkt man z.B. den Spitznamen des 1753 durch seine Verletzungen verstorbenen Fechters Thomas Barett, der “Old Chopping Block“ (dt. “alter Hackklotz“) genannt wurde.

Mitmachen durfte im Grunde genommen jeder, ob Soldat, Metzger oder Hafenarbeiter. Gehobene Bürger und Adelige machten nicht unbedingt mit, begeisterten sich aber selbst durchaus für die Kämpfe im Publikum, als Sponsoren von Kämpfern, beim Wetten und zum Genuss des öffentlichen Spektakels. Manch einer besuchte sogar zu Übungsstunden die Fechtschule eines Kämpfers, um die “männliche Kunst der Selbstverteidigung“ zu lernen, das Fechten und den Faustkampf. Aber nicht nur Männer, auch Frauen kämpften überraschend oft mit. Kämpferinnen wie Elizabeth Stokes, Mary Welsh und Martha Jones traten gegeneinander an und es gab sogar gemischte Paar-Kämpfe. Auch für Kämpfer afrikanischer Herkunft waren die Arenen eine Möglichkeit zu Ruhm und Geld zu gelangen. Sowohl auf den westindischen Inseln des englischen Kolonialreiches, als auch in England kämpften Männer wie Thomas Phillips, George Truner und William Tompson untereinander, aber auch gegen Europäer. Für manchen, wie den späteren Boxchampion Bill Richmond, war dies die Möglichkeit trotz ihrer Herkunft im Ansehen aufzusteigen und zu Geld zu gelangen. Viele riskierten durch die Kämpfe ihre eigentliche Profession nicht mehr ausführen zu können, denn Kämpfer stammten meist aus der Soldaten- und Arbeiterklasse und viele nahmen nur gelegentlich an den Gefechten teil.

James Figg. Stich von R. Graves, nach J. Ellys, 1734.

Es gab jedoch auch solche, die (semi-)professionelle Kämpfer waren, gar ihre eigenen Arenen und Fechtschulen begründeten. Der Bekannteste unter ihnen dürfte wohl James Figg sein, der als der Vater des modernen Boxens gilt. Figg (Jahrgang 1684, geboren in Oxfordshire) war einer der ersten Stars der Preiskämpfe. Als junger Mann wurde er von einem Adeligen nach London geholt und machte sich einen Namen als eine Mischung aus Kämpfer, Trainer, Promoter und Veranstalter. Er galt auch als erster englischer Schwergewichtsmeister (obwohl es damals noch gar keine Gewichtsklassen gab) und wurde daher 1992 posthum in die International Boxing Hall of Fame aufgenommen.

James Figg hatte reiche Gönner und in seiner „Amphitheater“ genannten Kampfarena gab es Tierhatzen, Bärenkämpfe und natürlich Prizefights mit und ohne Waffen. Die Waffenkämpfe waren damals noch wichtiger, aber es gab schon erste unbewaffnete Kämpfe, wohl mit nahezu keinen oder kaum Regeln. Schaut man sich die 1743 von Jack Broughton erlassenen (recht wenigen) Regeln an, sind nur wenige technische Einschränkungen zu finden. Das ist auch ein Beleg dafür, was vorher alles erlaubt gewesen sein muss im Boxen. Broughton, seines Zeichens Schüler und Erbe von Figg, hatte einen Gegner im unbewaffneten Faustkampf so schwer verletzt, dass dieser an den Folgen verstarb. Das schockte den starken Mann derart, dass er zur Sicherheit die Broughton-Rules erließ und im Training die sog. “Mufflers“ gebrauchte, die ersten Boxhandschuhe.

Gekämpft wurde im als “Pugilism“ bekannt gewordenen alten Boxen des 18. und 19. Jahrhunderts jedoch “bareknuckle“, also mit bloßen Fäusten. Figg war wohl der erste, der die Theorien seiner Fechtkunst auf den Gebrauch der Fäuste übertrug, weshalb auch heute noch das Boxen oft als Fechten mit der Faust bezeichnet wird. Systematische Aktionen in Offensive und Defensive, Paraden und Riposten, Finten und Konter, all dies webte sich vom Schwert- in den Faustkampf ein. Und dabei wurden Variationen von Hieben und Stößen gebraucht, Hammerfäuste, “Back-fists“, Stöße mit der offenen Hand und mehr. Die Kämpfer waren jedoch nicht auf den Gebrauch der Fäuste limitiert. Auch die Ellenbogen wurden eingesetzt und Kopfstöße waren nicht verboten. Ebenso gab es im Clinch und Infight immer noch die Möglichkeit Ringtechniken anzuwenden (mit den Broughton-Rules durften diese nur noch oberhalb der Hüfte angesetzt werden). So konnte man den Kopf des Gegners packen und wie beim „dirty-boxing“ im MMA bearbeiten. Dabei war aber sogar erlaubt die Haare zu greifen, u.a. ein Grund warum sich viele Kämpfer wie Figg, Miller, Broughton oder Barett das Haupt kahl scherten. Man konnte den Gegner auch in den Schwitzkasten nehmen und schlagen oder auf den Boden werfen. Auch Fußfeger, Hüftwürfe und andere Techniken waren bekannt, die dem heutigen Ringen oder Judo nicht unähnlich sind. Viele davon findet man auch noch in den lebendigen Ringkampftraditionen in England und Schottland.

John Broughton. Stich von R. Cooper, 1822.

Streng genommen verstießen die Prizefights gegen die gültigen Gesetze des Königreichs. Doch da der Hannoveraner George I. selbst ein großer Fan des Blutsports war, wurde dieser ebenso geduldet, wie alle Formen von Tierkämpfen, ob Hundekämpfe, Bullenbeißen, Bären-Hatz oder Hahnenkämpfe. Brot und Spiele fanden auch im britischen Königreich ihre Anhängerschaft. Figg hat es damals weit geschafft, von seiner Entdeckung durch den Earl of Peterborough in seinem Heimatort Thame, wo er als jüngstes Kind einer armen Bauernfamilie aufwuchs und später als Kämpfer in seiner Bude mit Stöcken, Stäben und Klinge in der Hand auftrat. Zwei Jahrzehnte später war er gefeierter Kämpfer von Pöbel und Adel gleichermaßen. Er gründete nahe London seine eigene Fechtschule, wo er die junge Elite der Stadt in Kampfkunst unterrichtete, baute seine eigene Kampfarena auf und verlor nie einen Kampf (bis auf einen). Im Dunst der Epoche, als England geplagt von Epidemien, Bürgerkrieg, Revolutionen und anderen Katastrophen langsam zur Weltmacht aufstieg, stieg auch Figg auf und begründet damit die Ausbreitung der Schaukämpfe mit und ohne Waffen.

Auf den hölzernen Bühnen, während die Zuschauermenge bei Speis und Trank begeistert zuschaute, wurde gekämpft, doch das Duell begann schon vorher, durch vollmundige Ankündigungen auf Plakaten und in Zeitungsartikeln. Die Kämpfer stellten sich vor, posaunten ihre Kunstfertigkeit im Kampf heraus und nutzten sogar “trash talk“, um den Gegner lächerlich zu machen (der sich wiederum ebenso revanchierte). Meistens wissen wir über die Kämpfe Details durch diese Artikel, aber auch die Berichte von Augenzeugen. Auch hinterließen einige der Kämpfer Fechtanleitungen in gedruckter Form, z.B. Captain James Miller (1737) und indirekt der Preiskämpfer Timothy Buck, der u.a. gegen Figg kämpfte und den späteren Fechter und Autor Thomas Page trainierte.

Kampf zwischen John Broughton und Jack Slack im Jahr 1750.

Die bekannteste Figur war dabei der schottische Soldat, Spieler, Zuhälter und notorische Duellist Donald McBane. In seinem 1728 veröffentlichten Buch, erklärte er nicht nur die Kniffe seiner Fechtkunst, sondern erzählte auch in seiner Autobiografie seine schillernde Lebensgeschichte. Als junger Soldat stand er mehrmals den Highland-Kämpfern auf dem Schlachtfeld gegenüber, zog später im Dienste von Marlborough durch halb Europa, nach Irland, Flandern, Bayern. Seine Geschichte voller Duelle, Schlachten und Belagerungen liest sich wie ein Abenteuerroman. Und natürlich nahm McBane später auch an zahlreichen Preiskämpfen als Stage-Gladiator teil.

Bis in die 1750er Jahre hinein wurden noch viele Waffenkämpfe ausgeführt. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wandelte sich das Spektakel hin zu den Faustkämpfen, bis diese allein noch die Preiskämpfe bestimmten. Das Boxen dominierte ab dann als Spektakel und war nicht minder berühmt und beliebt. Kämpfer wie Jack Johnson, Daniel Mendoza und Bill Richmond wurden um 1800 herum die neuen Stars der Kampfarena, wo sie sich mit Fäusten, Würfen und anderen Späßen für die Zuschauer und die Preisgelder bekämpften, ganz in der Tradition von James Figg und co. Sie kämpften unter den immer noch gültigen Broughton-Regeln, die erst 1840 als London Prize Ring Rules etwas überarbeitet wurden. Erst durch die Marquis of Queensberry-Regeln, wie wir sie heute kennen, wurde das Boxen nochmal gravierend technisch verändert.

Heute sind die alten Waffenkämpfer im Boxsport vergessen, nur wenige Sporthistoriker, Laienforscher und Kampfsportler halten die Erinnerung an sie hoch. Und verdient haben die Gladiatoren des 18. Jahrhunderts diese auch, waren sie es doch, die den Grundstein für den heutigen Boxsport gelegt haben.

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