von Alexander Fürgut
Es gibt eine alte Weisheit in der Kampfkunst-Community: Man kann Kämpfen nicht aus Büchern lernen. HEMA stellt allerdings die Frage: Und was, wenn es doch geht?!
Inhaltsverzeichnis
- Was ist HEMA?
- Open Source ist Teil der Kultur
- Am Anfang war… das Internet
- Das HEMA-Ökosystem
- Quellen
- Über den Autor
Was ist HEMA?
HEMA steht für Historical European Martial Arts, also Historische Kampfkünste Europas, und wird im Deutschen auch als Historisches Fechten bezeichnet. Dabei ist HEMA ein Oberbegriff, denn es handelt sich hierbei nicht um ein einzelnes System, sondern um eine Sammlung zahlreicher Kampfkünste und Systeme, die von 1300 bis ins frühe 20. Jahrhundert reichen.
Man kann grundsätzlich sagen, dass unter HEMA alles Europäische fällt, von dem Primärquellen erhalten sind, also Texte zeitgenössischer Autoren, die das Fechten mit einer oder mehreren Waffen beschreiben. Anleitungen würde man solche Texte heute nennen.
Was nicht ausreicht, sind Berichte aus zweiter Hand oder Werke der Dichtung, da sich hieraus keine zuverlässigen Schlüsse ableiten lassen.
Manchmal hat man Glück und es haben Systeme ganzer Fechterdynastien wie Kreussler/Roux überlebt, deren Lehrer-Schüler-Verhältnisse man über Jahrzehnte nachvollziehen kann. Gerade auch im Langen Schwert sind zahlreiche Quellen erhalten, deren Wirkperiode über 200 Jahre abdeckt.
Sehr zur allgemeinen Enttäuschung vieler Fans, gibt es für manche populäre Waffengattungen allerdings keinerlei Primärquellen, wie Wikingerschild und -schwert oder die Gladiatur der Römer.
Die populärste Waffe im HEMA ist ohne Frage das Lange Schwert, aber auch andere Blankwaffen wie Rapier, Schwert & Buckler und (Militär-)Säbel erfreuen sich großer Beliebtheit. Neben diesen “Mainstream”-Waffen finden aber auch so unterschiedliche Systemen wie der Kampf im Harnisch, das bewaffnete Fechten zu Ross, bis hin zum Bajonett und dem unbewaffneten historischen Ringen Platz im HEMA.

Dabei versucht sich HEMA stark gegen andere Beschäftigungen abzugrenzen, die ebenfalls Geschichte und Blankwaffen zusammenbringen. HEMA möchte weder Reenactment und seine Darstellung in historischer Kleidung, noch Buhurt und sein Vollkontakt im Harnisch sein. Und doch kennt man selbst in Reenactment-Kreisen Namen wie Johannes Liechtenauer oder Hans Talhoffer.
Manche Gruppen rekonstruieren direkt im Training Techniken aus historischen Schriftquellen, während andere ein modernes Kampfsport-Training inklusive Sparring durchführen. Manchen geht es vor allem um Ästhetik und anderen um Effizient im Wettkampf. Dementsprechend unterschiedlich fallen die Ergebnisse aus.
Die in Deutschland klassische Trennung zwischen Kampfsport und Kampfkunst verläuft hier innerhalb derselben Szene und doch findet beides seinen Raum.
Open Source ist Teil der Kultur
Da die historischen Quellen so eine zentrale Rolle einnehmen, ist der Zugang dazu ein wichtiger Aspekt. So manche traditionelle asiatische Kampfkunst hätte die Verfügbarkeit solcher Schätze eingeschränkt und das Wissen darüber nur Meistern zugänglich gemacht.
HEMA ging einen komplett anderen Weg und es gibt gleich mehrere Community-Projekte, die Quellen frei verfügbar machen, wie Wiktenauer.com und die Transkription von Dierk Hagedorn auf der Hammaborg-Homepage.

Wiktenauer ist spendenfinanziert und hat zum Ziel möglichst viele Primärquellen frei verfügbar zu machen. Dazu werden Scans der Manuskripte und Fechtbücher aufbereitet, auf eigenen Servern gehostet und die Veröffentlichungsrechte mit Museen und Universitätsbibliotheken ausgehandelt.
Dierk Hagedorn hat rein aus Interesse tausende Manuskriptseiten transkribiert, übersetzt und kostenlos veröffentlicht. Einige davon fanden ihren Weg in gedruckte Bücher, aber bei weitem nicht alle.
Diese Struktur sorgt dafür, dass sich jeder mit Internetzugang und ausreichend Motivation selbst mit Quellen beschäftigen kann. Finden sich ein paar Freunde zusammen, um das gemeinsam zu tun, sind die wichtigsten Schritte zu einer neuen HEMA-Gruppe schon getan. Ganz nach dem Motto “Bock auf Schwertkampf, aber nichts in der Nähe? Dann mach doch dein eigenes Ding!”, erinnern sich noch viele historische Fechter an die ersten Trainingseinheiten im Park oder Wald.
Man kann sich vorstellen, dass sich anfangs niemand besonders gut mit der Materie auskannte und auch Kampfkunst- oder Kampfsport-Vorerfahrung war oft nur rudimentär vorhanden. Das Training war dadurch eine gegenseitige Unterstützung Fechten zu lernen und die Materie zu durchdringen.
Man fragt sich zurecht, wie unter diesen Umständen am Ende ein sinnvolles Ergebnis entstehen soll.
Und doch ist es genau diese Offenheit und niedrige Einstiegshürde, die das starke Wachstum der HEMA-Szene begünstigt. Wie lange hätte es in einem traditionellen Kampfkunst-System gedauert, bis die ersten Meister ihre Schüler soweit ausgebildet hätten, dass diese ihrerseits bereit gewesen wären Gruppen zu gründen und dort neue Meister auszubilden?
So konnte jeder informelle Trainingsgruppen gründen, denen bei Bedarf im Nachgang eine feste Struktur übergestülpt wurde. So war es möglich, dass vor 20 Jahren alle HEMA-Trainierenden in Deutschland noch in eine einzelne Turnhalle gepasst haben, während es Ende 2021 über 4500 Trainierende gab.1
Man muss dazu sagen, dass es solch ein Training auf Augenhöhe es generell schwierig macht, sich als Meister, Sifu oder Guru zu platzieren, wodurch solch ein Ansatz wahrscheinlich ohnehin nicht akzeptiert worden wäre. Auch heute noch ist HEMA von einer tief empfundenen Skepsis gegen selbsternannte Fecht- und Schwertmeister geprägt.
Am Anfang war… das Internet
Nicht zufällig, fällt die Geburt der modernen HEMA-Szene mit der Geburt des Internets zusammen. Denn was mit dem Internet einherging, ist eine globale Vernetzung selbst der kleinsten Nischen-Interessen. So konnten sich bereits in den 90ern Menschen mit Schwertkampf-Interesse vernetzen, die eben gerade kein Reenactment machen wollten. Zusammen mit etwas “Herr der Ringe”-Hype wurde so der Grundstein für die moderne HEMA-Community gelegt. Und irgendwie mussten schließlich auch die Quellen ausgetauscht werden.
Die eigentliche Frage, die HEMA beantwortet, ist diese: Ist es möglich Kampfkunst/-sport aus Büchern zu lernen?
Hätte eine einzelne HEMA-Gruppe ohne Vorwissen und Vorerfahrung wirklich gute Ergebnisse erzielen können? Wohl eher nicht. Doch HEMA-Gruppen sind nie allein. Was ein einzelner oder eine kleine Gruppe von Personen nie geschafft hätte, wurde durch Kollaboration und Schwarmintelligenz möglich gemacht. Der Ablauf war, dass zuerst die Vernetzung über das Web erfolgte und sich von hier der persönliche Austausch entwickelte.

Die Herangehensweise, Wissen öffentlich zu machen und Erkenntnisse mit anderen zu teilen, hat sich die HEMA-Szene bis heute erhalten. In vielen Teilen agiert HEMA wie die Open Source Community, da jeder daran teilnehmen kann und es keine Voraussetzungen gibt, außer dem eigenem Interesse. Jeder kann so viel Zeit und Energie investieren, wie er möchte.
Auch heute noch hat HEMA eine überproportional starke Präsenz in Web-Communities. So hat etwa der Karate Subreddit 30.400 Mitglieder,2 während der Western Martial Arts Subreddit (ein anderer Begriff für HEMA) 30.500 Mitglieder hat.3 Zum Vergleich: Allein der Deutsche Karate Verband hat in Deutschland 160.000 Mitglieder, was mehr als 33 Mal so viel ist wie es historische Fechter gibt.4 Weltweit wird sogar von über 50 Millionen Karate-Praktizierenden ausgegangen!5
Das HEMA-Ökosystem
Heutzutage ist der Einstieg nochmal deutlich einfacher geworden, da es zahlreiche Youtube-Kanäle, Blog-Artikel, HEMA-Podcasts und Events rund um HEMA gibt, die sehr viel Wissen vermitteln und kaum noch Wünsche offen lassen. Das HEMA-Ökosystem ist gewachsen und bietet für die meisten Geschmäcker etwas.

Ein Beispiel für ein deutschsprachiges Community-Projekt ist mein HEMA-Podcast Schwertgeflüster. Die Themen drehen sich um alles, was mit HEMA zu tun hat, was eine ganze Menge ist. So haben wir seit Anfang 2020, anfangs wöchentlich und zwischenzeitlich zweiwöchentlich, über 100 Folgen mit bis zu 1,5 Stunden Länge veröffentlicht.
Dass wir uns mit den zahlreichen Waffengattungen im HEMA auseinandersetzen, wird wohl niemanden überraschen, aber genau so geht es um unsere persönlichen Erfahrungen als Wettkämpfer, es gibt mehrere Folgen mit Tipps für Anfänger und es geht natürlich um die Geschichte des Kämpfens.
Auch zahlreiche Gäste tragen ihr Wissen bei, die von einem Stuntman, über Post-Docs der Fechtbuch-Forschung, professionelle Tjoster, Geschichtspodcast-Kollegen bis zu Olympiateilnehmern im modernen Fechten reichen.
Warum tut man sich die Arbeit an? Um Geld geht es uns nicht. Wir haben zwar einen Patreon-Account und auch einige Patreons, die uns finanziell unterstützen (danke an dieser Stelle!), aber die Chancen, dass sich Schwertgeflüster jemals finanziell rechnet, sind überaus gering.
Klar, es macht Spaß, Wissen und spannende Geschichte(n) mit der Community zu teilen. Es fühlt sich aber auch richtig an, der Community etwas zurückzugeben, die einem selbst schon viel gegeben hat.
Kann man Kampfkunst also aus Büchern lernen? Ja, mit einer großen, stark vernetzten Community und einigen Jahrzehnten Zeit im Rücken! Damit ist HEMA die erste und vielleicht einzige Art mit Open Source Kämpfen zu lernen.
Quellen
- https://www.schwertgefluester.de/hema-zensus-2021/ Abgerufen am 10. März 2022
- https://www.reddit.com/r/karate/ Abgerufen am 10. März 2022
- https://www.reddit.com/r/wma/ Abgerufen am 10. März 2022
- https://www.karate.de/de/verband/verbandsstruktur.php Abgerufen am 30. März 2022
- https://uwkf.rsportz.com/pages/about_us Abgerufen am 30. März 2022
Beitragsbild: HEMA-Training in Ausrüstung beim Schwabenhau 7 ©Alexander Fürgut.
Über den Autor
Alexander Fürgut hat 2011 mit den Schwabenfedern einen der inzwischen größten HEMA-Gruppen Deutschlands mitbegründet, wo er seit dieser Zeit auch unterrichtet. Die ersten 10 Jahre seiner HEMA-Laufbahn hat er sich vorrangig dem Langen Schwert gewidmet und ist 2021 zum Rapier gewechselt.
HEMA-Wissen teilt er im Schwertgeflüster Podcast sowie in Artikeln auf HEMA Guide.com. Zudem betreibt er den HEMA-Event Kalender HEMA.events.