Kampfsport für Menschen mit Behinderungen

von Helmut Gensler

Mit Sport verbindet man meist körperliche Höchstleistungen, den leistungsorientierten Wettkampf, bei dem es um Siege und Rekorde geht. Fern davon scheint auf den ersten Blick der Gedanke, Sport – oder gar Kampfsport – mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen zu betreiben. Doch nicht nur die Paralympics zeigen uns auf, zu was auch Menschen mit den unterschiedlichsten Handicaps fähig sein können. Denn Sport ist weitaus mehr als bloße Leistung. Und Kampfsport hat in seiner vielfältigen Breite einiges mehr zu bieten, als zu erlernen, einen Gegner zu besiegen. Er bietet auch Werkzeuge, um Menschen mit und ohne Behinderungen körperlich, geistig und seelisch zu fördern:

Nur die wenigsten Kämpfe werden vor Kameras im Scheinwerferlicht einer Kampfarena gewonnen. Die meisten – und vielleicht bedeutendsten – Kämpfe findet man dort, wo Menschen im Alltag auf Barrieren stoßen, an ihnen anecken und über ihre eigenen Grenzen, hinauszuwachsen lernen. Sie finden dort statt, wo Menschen Neues über sich selbst lernen und sich dadurch weiterentwickeln. Das macht einen großen Reiz im Kampfsport aus. Und das gilt für alle Menschen. Für Menschen mit Inklusionsbedarf aber gibt es zur Ausübung eines Kampfsports einige Aspekte zu beachten. Diese möchte der Autor im Folgenden vorstellen.

Was ist zu beachten?

Ganz grundsätzlich sind die Komponenten zu sehen: Jede Kampfkunst hat ihre eigenen Regeln, Bewegungsabläufe und Strategien. Je nach Stil müssen die Techniken mehr oder weniger absolut exakt ausgeführt werden, die Spielräume für Modifikationen sind also verschieden. Bei jedem/r potenziellen Teilnehmer*in können sich vor allem Motorik, Kondition, Koordination, mentale Gegebenheiten und Anstrengungs­bereit­schaft als wichtige Faktoren unterscheiden. Das trifft für alle Menschen zu.

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist der/die Trainer*in mit den Fähigkeiten zur genauen Analyse seiner Schützlinge und der Motivation möglichst stilgenau und damit einschränkend oder eher „breitensportmäßig“ mit individuell angepassten Ausführungen der Kampfkunst-Techniken zu lehren. Das setzt bei der Inklusion von Menschen mit Behinderungen auch ein klares Grundwissen über die Behinderungsarten und ihre Auswirkungen voraus.

Sensei Ishigawa (8. Dan) beschrieb bei einem Lehrgang die Anforderungen an den Trainer so: Karate ist „gespreizte Hand in Daume zu kleinem Finger“ und Karate mit Behinderten ist „ausgestreckte Arme von rechter Hand zu linker Hand“.

Sehr viele Menschen mit Behinderungen erleben, dass „extra etwas für sie“ gemacht wird. Das Ziel sollte aber sein, dass „ganz normal etwas miteinander“ angefangen wird.

Das Beispiel der Formen

Eine stilartoffene, inklusive Kata/Pomse/Form muss gewisse Kriterien aufweisen. Beispielsweise lässt sich die Heian Shodan aus dem Shotokan Karate auch in gemischten Gruppen laufen. Bei weichen Kampfkunst-Bodenmatten wird die Eigendynamik des Rollstuhls aber ignoriert. Wenn für eine inklusive Sportgruppe eine Anfänger-Kata entwickelt werden soll, dann könnten diese Kriterien wichtig sein:

Der Bewegungsablauf soll leicht zu merken sein, eventuell mit einer Geschichte. Die einzelnen Bewegungen kommen aus dem gewohnten Umfeld, sind eher symmetrisch. Rollstuhlfahrer und Fußgänger führen vergleichbare Bewegungsänderungen durch. Die Form ist erweiterbar, Umsetzungen für eine Selbstverteidigung/Befreiung werden gezeigt. Elemente aus ganz verschiedenen Kampfkunst-Stilen können einbezogen werden. Bei Rollstuhlfahrer*innen soll die Dynamik des Rollstuhls als FAHRzeug einbezogen werden. Bei Koordinationsstörungen (Cerebralparesen etc.) ist eine asymmetrische Ausführung „normal“.

Info-Box

Kae-In-Sog-In  
Eine speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konzipierte Kampfkunst ist Kae-In-Sog-In. Ihr Begründer ist Horst M. Kohl (6. Dan im Taekwondo, 7. Dan im Kae-In-Sog-In durch die IFMAC und IBDF).  

Eine kurze Chronologie:
1994 (Herbst): Erster Lehrgang in SV in Kitzingen Florian-Geyer-Halle
1995 (Frühjahr): Beginn mit Teilnehmer*innen aus vorherigem SV-Lehrgang Erweiterung und Adaption der Inhalte, weil feste Kata/Pomse der gängigen Kampfkunst-Stilarten nicht von allen Menschen mit Beeinträchtigungen regelkonform ausgeführt werden können.  
Stilartübergreifend werden die Übungen den Fähigkeiten der Teilnehmer modifiziert und entwickelt.  
1997: Erweiterung mit Slow-Motion-Arts und nachfolgend der Blasrohrsport.   
Übungsleiter-Ausbildung für Kae-In-Sog-In seit 2005 in Kitzingen und Coburg ab 2010, Anerkennung durch verschiedene Landessportverbände im Behindertensportbereich.   2013: Allgemeine Umstellung der Übungsleiterausbildung im Behindertenbereich und damit Beendigung der Fachausbildung in Coburg.  

Blasrohrschießen

Es wurde ein Sport „gesucht“, die folgenden Kriterien erfüllt:

  • geringer finanzieller Aufwand für das Material und Räumlichkeit
  • schnelle Lernerfolge für alle sichtbar, aber „nach oben offen“ in den Anforderungen
  • allgemeines Regelwerk mit wenig Ausnahmen für schwerer Behinderte
  • viele unterschiedliche Teilnehmer können parallel nebeneinander agieren
  • individuell ansetzbar, Teamwertung und überregionale Wettkämpfe möglich

Beim Blasrohrschießen können grundsätzlich alle teilnehmen, die Sport treiben wollen. Als Altersuntergrenze kann man das Alter von 10 Jahren festsetzen, denn eine gewisse Reife im Umgang mit Regeln und potenziell gefährlichen (spitzen) Sportgeräten ist notwendig.

Bei Sportler*innen mit Behinderungen sind zusätzliche differenzierte Angebote und technische Hilfen nötig:

  • angepasste Blasrohre (Länge und Mundstück)
  • unterschiedliche Zielhöhe (1,20 m extra bis 1,50 m Norm)
  • individuell einstellbare Stative in Höhe und Auflageart
  • Zielentfernung ab 3 Meter, Norm 5 Meter, „Leistungsgruppe“ 10 Meter
  • Neuentwicklung einer Magnethalterung beim Aufbau des Luftdrucks
  • Halteleiter bei schwerer Cerebralparese
  • Rollstuhl oder Sitz bei zu geringer Rumpfkontrolle und zu wenig Gleichgewichtsgefühl

Fazit

Hier konnte nur exemplarisch aufgeführt werden, welche Aspekte beim Praktizieren von Kampfsport für Menschen mit Behinderungen zu beachten sind. Grundsätzlich gibt es nicht DEN Kampfsport für DIE Menschen mit Behinderungen. So bunt und vielfältig, wie alle Menschen sind, so individuell lassen sich Kampfsportarten auch von diesen ausüben. Jeder Mensch hat bestimmte Stärken, Schwächen, Vorlieben und Dinge, die er wiederum nicht mag. Wichtig ist, Menschen einen einfachen Zugang mit möglichst geringen Schwellen zum Kampfsport zu ermöglichen. Einmal „drin“, sollten sie darin gefördert werden, sich in Abhängigkeit von ihren individuellen Potenzialen weiterzuentwickeln. Dazu bedarf es möglichst gut ausgebildeten Übungsleiter, die diese Entwicklungsprozesse betreuen. Auch das gilt für Kampfsport mit – und ohne Behinderungen.

Zum Autor:

Helmut Gensler, Jg. 1952, ist pensionierter Studienrat an Förderschulen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Sport und Bewegung in der Schule und mobile sonderpädagogische Dienste an Regelschulen. Als Übungs- und Ausbildungsleiter für Kae-In-So-In vermittelt er seit vielen Jahren Kampf- und Bewegungsformen für Menschen mit Behinderungen. Kontakt: gensler-coburg@freenet.de

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