HEMA – Was ist das?

von Jan H. Sachers

Das Kürzel HEMA steht für Historical European Martial Arts, also historische europäische Kampfkünste.

Historisch

Die Kampfsysteme, mit denen sich HEMA befasst, entstanden in einer mehr oder weniger weit zurückliegenden Vergangenheit in einem militärischen, zivilen oder sportlichen Kontext. Aufgrund gesellschaftlicher, kultureller, waffentechnischer oder anderer Entwicklungen gerieten sie außer Übung und wurden nicht länger aktiv tradiert. Sie lassen sich jedoch heute aus erhaltenen Quellen unterschiedlicher Art rekonstruieren – die Beschäftigung mit diesen Text-, Bild- und Sachzeugnissen ist ein wesentlicher Bestandteil von HEMA.

Europäisch

Die Bezeichnung „europäisch“ dient vorrangig zur Abgrenzung gegenüber den heute bekannteren und weiter verbreiteten asiatischen Kampfkünsten. Die unter dem Überbegriff HEMA zusammengefassten Systeme bzw. die Quellen ihrer Überlieferung sind zwar in Europa entstanden, das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch anderswo praktiziert wurden oder keine außereuropäischen Einflüsse in ihre Entwicklung aufgenommen wurden.

Kampfkunst

Als Kampfkünste werden allgemein Bewegungssysteme bezeichnet, die körperliche Techniken und Fertigkeiten zur symbolischen oder tatsächlichen Überwindung von Gegnern beinhalten. Im Kontext von HEMA ist zunächst unerheblich, ob diese zur Selbstverteidigung, als Sport, zur körperlichen Ertüchtigung, für militärische oder anderen Zwecke dienten. HEMA umfasst sowohl waffenlose Systeme wie Ringen als auch den Umgang mit verschiedenen Wehren, wobei Klingenwaffen des Mittelalters und der Renaissance wie Schwert, Dolch und Rapier auch aufgrund der vergleichsweise günstigen Quellenlage die größte Verbreitung genießen.

Ringtechniken in Albrecht Dürers Fechtbuch. Wien, Albertina, MS 26-232, fol 23r. Gemeinfrei, Quelle.

Quellen

Da die Traditionen der historischen Kampfkünste irgendwann abgerissen sind, es also keine lebenden „Meister“ mehr gibt oder gab, sind wir auf andere Quellen angewiesen, um die praktizierten Techniken zu rekonstruieren.

Seit dem späten Mittelalter haben sich sogenannte „Fechtbücher“ erhalten, in denen einzelne Kampfsysteme in Text, Bild oder beidem dargestellt werden. Der Begriff „fechten“ ist dabei in seiner ursprünglichen Bedeutung von „kämpfen“ zu verstehen (etymologisch ist er mit dem englischen Wort „fight“ verwandt), bezieht sich also nicht nur auf den Zweikampf mit Klingenwaffen.

Das bislang älteste erhaltene Beispiel, das Manuskript I.33 der Royal Armouries in Leeds, auch bekannt als „Tower-Fechtbuch“, ist zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Deutschland entstanden und beschreibt in Bildern und lateinischem Text den Umgang mit einhändigem Schwert und dem Buckler, einem kleinen Schild. Zu den bekanntesten Quellen mittelalterlicher Kampfkünste zählen heute die in verschiedenen Überlieferungssträngen erhaltenen Lehren Meister Johannes Liechtenauers sowie die Werke des professionellen Lohnkämpfers und Fechtmeisters Hans Talhoffer aus dem 15. Jahrhundert.

Die erhaltenen mittelalterlichen Fechtbücher befassen sich mit dem Kampf mit Schwert, Speer, Dolch, dem Langen Messer, Dussack (eine Frühform des Säbels), der halben Stange und ähnlichen Wehren, mit Rüstung oder ohne, und behandeln zum Teil auch das „Rossfechten“, also den Kampf zu Pferde. Sie sind jedoch nicht nur aufgrund der altertümlichen Sprache und Schrift, sondern auch wegen der Beschränkungen des Mediums Buch bei der Vermittlung von körperlichen Aktivitäten nicht immer einfach zu interpretieren.

Auch in anderen Text- und Bildzeugnissen der Vergangenheit sind zuweilen Kampftechniken dargestellt, und erhaltene Realien und Rekonstruktionen werden ebenfalls herangezogen: Form, Größe und Gestaltung einer Klingen- oder Stangenwaffe, eines Schildes oder anderer Ausrüstung können viel über die Praxis ihrer (wahrscheinlichen) Handhabung verraten.

Fechtschule des 18. Jahrhunderts: Es wird auch noch mit veralteten Wehren wie dem Langschwert gefochten (vorne rechts). Georg Balthasar Probst, 1742 – 1801. Gemeinfrei, Quelle.

Beispiele für verschiedene Wehren

Da HEMA einen großen Zeitraum von der Antike bis in die Neuzeit abdeckt, ist auch die Bandbreite der verwendeten Wehren entsprechend vielfältig und reicht z.B. von bronzezeitlichen Schwertern und Schilden über die Bewaffnung der römischen Gladiatoren oder der barocken Kavaliere bis hin zu den Säbeln oder Bajonetten (früh-)neuzeitlicher Armeen.

Aufgrund der Quellenlage und sicherlich auch einer gewissen Romantik sind Mittelalter und Renaissance die in der (deutschen) HEMA-Szene beliebtesten Epochen. Hier ist es vor allem das meist beidhändig geführte Lange Schwert, zu dem viele Abhandlungen existieren, aber auch Schwert und Buckler (Faustschild), Langes Messer, Speer, Dolch und Rapier werden ausgiebig behandelt und daher heute gerne genutzt.

Hinzu kommen zahlreiche unterschiedliche Stilformen des waffenlosen Kampfes wie das mittelalterliche Ringen, das neben Würfen und Hebeln allerdings auch Schläge und Tritte umfasst. Weitere Disziplinen, die heute wiederentdeckt und praktiziert werden, sind z.B. das viktorianische Bartitsu, bei dem jedoch auch Alltagsgegenstände wie Regenschirm oder Gehstock zur Selbstverteidigung eingesetzt werden, Pugilismus oder Bareknuckle Boxing und andere.

Kampfkunst – Kampfsport – Selbstverteidigung

Die meisten vor-neuzeitlichen Kampfsysteme entwickelten sich entweder in einem militärischen Kontext oder dienten vornehmlich der Selbstverteidigung. Im Spätmittelalter – der Zeit, in der die ältesten erhaltenen Fechtbücher entstanden – übten sich längst nicht mehr nur professionelle Krieger im Umgang mit verschiedenen Wehren, sondern auch wohlhabende Kaufleute, Handwerker und andere Bürger.

Zu diesem Zweck existierten sogenannte Fechtschulen, die entweder als feste Institution in einer Stadt von einem oft vom Rat privilegierten Fechtmeister betrieben oder als periodisch wiederkehrende Veranstaltungen z.B. im Rahmen von Volksfesten, Messen u.ä. abgehalten wurden. In diesem Kontext setzte bereits eine gewisse „Versportlichung“ der Übungen ein, denn es wurden Turniere durchgeführt und zu diesem Zweck Regeln erlassen, die gewisse Techniken untersagten und Kriterien für Sieg und Niederlage festlegten.

Diese Tendenz setzte sich in Renaissance und Barock weiter fort. So wurden etwa weiterhin der Umgang mit Wehren wie dem Langen Schwert geübt und die entsprechenden Lehren niedergeschrieben, obwohl diese ihre Bedeutung in Militär und Alltag längst verloren hatten.

Für die Ausbildung der stehenden Heere der Neuzeit waren hingegen Anleitungen erforderlich, die den Rekruten auf möglichst einfache Weise den effektiven Gebrauch der jeweils aktuellen Wehren – Piken, Hellebarden, Säbel, Bajonette usw. – vermitteln konnten. Auch diese dienen heute als Quellen zur Rekonstruktion von außer Gebrauch gekommenen Kampfsystemen.

Dabei hat sich die Bedeutung allerdings erneut verschoben. Selbstverteidigung oder militärische Anwendung spielen keine Rolle mehr, denn zum einen wird nicht mit scharfen Waffen gekämpft, sondern mit stumpfen Simulatoren trainiert, und zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit, mit Schwert, Rapier oder Säbel in ein Duell auf Leben und Tod zu geraten, glücklicherweise sehr gering geworden.

Für die meisten Praktizierenden der HEMA-Szene stellt daher das Erlernen einer traditionellen Kampfkunst mit europäischen Wurzeln einen reinen Selbstzweck dar. Es handelt sich um ein Hobby, um körperliche Ertüchtigung mit sozialen und antagonistischen Aspekten. Der sportliche Aspekt äußert sich vornehmlich in der Schaffung neuer Regelwerke und der wachsenden Zahl von Turnieren auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene, wird jedoch von Teilen der Szene auch kritisch betrachtet, da solche Wettkämpfe der ursprünglichen Intention vieler Kampfsysteme zuwiderlaufen.

Die Beschäftigung mit den Quellen und den historischen Hintergründen der verschiedenen Systeme ist für viele Praktizierende ebenfalls von großer Bedeutung. Zahlreiche Angehörige der living history-Szene, die sich der möglichst authentischen Darstellung des Mittelalters oder einer anderen Epoche verschrieben haben, studieren und praktizieren die entsprechenden Kampfkünste als Bestandteil dieser Bestrebungen.

Auch die Geschichtswissenschaft widmet sich seit einigen Jahren verstärkt den Quellen historischer europäischer Kampfkünste. Die interdisziplinäre Fechtbuchforschung befasst sich mit Fragen nach Entstehung, Intention, Urhebern und Publikum historischer Werke zu europäischen Kampfkünsten sowie der Vermittelbarkeit von komplexen Bewegungssystemen im statischen Medium Buch. Sie liefert dabei nicht nur den Praktizierenden historischer Kampfkünste wertvolle Informationen, sondern integriert z.T. auch Erkenntnisse aus der HEMA-Szene.

Historisches Fechten in zeitgenössischer Ausstattung. Foto: Autor.

Organisation

Im 2014 gegründeten Deutschen Dachverband historisches Fechten e.V. (DDHF) sind nach dem aktuellen (2021) HEMA-Zensus Vereine, Schulen oder Gruppen an 124 Standorten mit insgesamt mehr als 1.970 Aktiven organisiert, davon 20 % weiblich. Daneben gibt es aber noch zahlreiche „freie“ Gruppen, Interessengemeinschaften oder Abteilungen von Sportvereinen, die anderen Dachverbänden angehören.

Insgesamt dürfte die Zahl derer, die in Deutschland in irgendeiner Form HEMA betreiben, bei ca. 4.500 Personen liegen. Die Szene ist also nach wie vor sehr klein, hat aber in den vergangenen 10 Jahren einen enormen Zuwachs erlebt, der – zumindest nach dem Ende der Einschränkungen durch Corona – mit Sicherheit weiter andauern wird. Und sie ist sehr offen, vielfältig und international vernetzt – die überlieferten Kampfkünste mögen zum Teil viele Jahrhunderte alt sein, ihre Praktizierenden jedoch sind moderne, aufgeschlossene, überwiegend junge Menschen und keineswegs „von gestern“.

Autor
Jan H. Sachers M.A. ist Historiker und betreibt seit 2006 die Agentur „HistoFakt. Historische Dienstleistungen“. Er befasst sich seit vielen Jahren mit historischen Kampfkünsten und ist Gründungsmitglied des Vereins „Historisches Fechten Würzburg e.V.“.

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